joeressen+kessner - Transmediale Echtzeit Interventionen
Bettina Pelz
Seit 15 Jahren arbeiten Eva-Maria Joeressen und Klaus Kessner zusammen. In ihren ortsgebundenen Arbeiten entwerfen sie Bild-Klang-Kompositionen als Rauminterventionen. Sie reagieren auf eine Situation, die sich aus topografischen Spezifika eines Ortes, architektonischen Aspekten und assoziierten Erfahrungs-, Bedeutungs- und Sinnzusammenhängen zusammensetzt. Sie vertiefen sich in die Vielschichtigkeit eines Ortes und gehen dieser in vielen ihrer Verästelungen nach, um das Offensichtliche wie das Übersehene, Eingeschriebenes wie Adaptiertes, Erkennbares und Codiertes zu reflektieren. Anhand ihrer Beobachtungen und Fundstücke generieren sie Datensysteme, die Bild- und Klang-Projektionen steuern und in Echtzeit angewandt werden.
Licht und Schall
Mit den Worten des Medientheoretikers Siegfried Zielinski lässt sich die Arbeitsweise von joeressen+kessner als "Kartografie des technischen Visionierens, Lauschens und … Kombinierens" (1) beschreiben. Licht und Schall sind die Medien, die joeressen+kessner nutzen, um Räume auszuloten ebenso wie um sie zu überschreiben. Als schwingungsbasierte Medien beziehen diese sich immer auf ihr Gegenüber als Reflexionsgrund und Resonanzraum. Sie ermöglichen eine Art der Raumerschließung, in der die sichtbaren und unsichtbaren Wirkkräfte ebenso wie die hörbaren und nicht-hörbaren thematisiert werden können. In einer vergleichbaren Herangehensweise arbeitet die Künstlerin und Musikerin Christina Kubisch, deren Interventionen sich ebenfalls auf Aspekte von Architektur, technische Spezifikationen und die Geschichte oder Nutzung ausgewählter Räume beziehen. Kubisch entwickelte solargesteuerte Techniken, mit denen sie Klänge und Klangfolgen je nach Lichteinfall modulieren konnte oder Induktionskopfhörer, mit denen sie Klänge aus Kabelstrukturen hörbar und zum Teil von Klangkomposition machte. Wie joeressen+kessner bezieht sie sich vielfach auf das Klang-Bild-Verhältnis: "Wenn ich zum Beispiel über das Unsichtbare arbeite, kann ich sowohl mit UV-Licht arbeiten als auch mit verborgenen elektromagnetischen Klangquellen. Es sind beides Elemente, die nicht sofort sichtbar oder hörbar sind. Aber dadurch, dass sie nicht greifbar und trotzdem vorhanden sind, haben sie etwas gemeinsam. Und so sehe ich, dass alles, was ich mache, auch wenn es sich in verschiedenen Richtungen manifestiert, zusammengehört." (2), erklärt Kubisch.
Bild und Klang
Bild und Klang sind gleichberechtigte Materialien in den Interventionen von joeressen+kessner. Die Entwicklung von dialogischen Formprinzipien als Handlungsanweisung offener Rechenprozesse für den Entwurf von Bild-Klang-Räumen zeichnen die Arbeiten aus. In der transmedialen Arbeitsweise geht es nicht um synästhetische Äquivalente, sondern um Betrachtungsweisen, die den Interferenzen von Bild und Klang nachgehen. In dieser Herangehensweise vergleichbar ist der Künstler und Musiker Ryoji Ikeda, der ebenfalls mit Klang, Bild, Zeit und Raum experimentiert. Er orientiert sich an mathematischen Prinzipien, physikalischen Phänomenen und wissenschaftlichen Theorien. In seinen Installationen vernetzt er Raum und technisches Equipment mit Sinuswellen und Soundimpulsen, Lichtpixeln und Bildfragmenten zu dynamischen Daten-, Zahlen- und Bild-Systemen, die die audiovisuelle Korrespondenz neu formatieren. "The key is the composition", erklärt er. "I compose visual elements, sounds, colors, intensities, and data … I love to compose; I love to orchestrate all these things into one single art form – sometimes as a concert, sometimes as an installation, sometimes as public art, sometimes as film." (3) Dabei thematisiert er das Zusammenspiel zwischen menschlicher Wahrnehmung, wissenschaftlicher Erkenntnis und theoretischen Potentialen als offenes, semantisches System – so wie es auch joeressen+kessner beschäftigt.
Raum und Intervention
Das Besondere an den Interventionen von joeressen+kessner ist, dass sie ortsgebunden sind. Sie beziehen sich auf die vorgefundene Architektur sowie die räumlichen und materiellen Bedingungen der Licht- und Schallbewegungen. In der Entwicklung ihrer Interventionen arbeiten sie an maßstabsgerechten Modellen, um die Auseinandersetzung mit Baustrukturen und Formprinzipien in ihrer Wechselwirkung wie in ihrer ästhetischen Dimension analysieren zu können, so dass die Produktionsphase vor Ort vorrangig durch die Präzisierung gekennzeichnet ist.
Mit 'ortsspezifisch' werden seit den 1960er Jahren künstlerische Praktiken beschrieben, die für oder in Verbindung mit dem Ort, an dem sie gezeigt werden, arbeiten. Der Blick auf den Ausstellungsort veränderte sich vom neutralen Display zum Gegenstand oder Material der Arbeit. Es entstanden raumbezogene Installationen oder ortsgebundene Interventionen, wobei 'ortsgebunden' meint, dass der Ort und die Arbeit untrennbar sind.
Als "das erste elektronisch-räumliche Environment, das Architektur, Film, Licht und Musik zu einem Raum und Zeit fusionierenden Gesamterlebnis verbindet" (4), beschreibt der Musik- und Medienwissenschaftler Golo Föllmer den Philips-Pavillon, der 1958 zur Weltausstellung in Brüssel realisiert wurde. Die künstlerische Leitung lag bei Le Corbusier. Er kooperierte mit Iannis Xenakis und Edgard Varèse. Golo Föllmer schreibt: "Zwei Tonbandkompositionen entstandenen dafür: "Poème électronique" von Edgard Varèse zielte auf eine intensive Verquickung von Raum- und Klangerfahrung. Die verwendeten synthetischen und konkreten Klänge wurden zu Le Corbusiers Film/Lichtprojektion mit Hilfe aufwändiger Lautsprechertechnik als Linien und Volumina im Raum bewegt." Akustischer Raum und Architektur, Lichtverhalten und Bilderzeugung sowie die ästhetischen Qualitäten, die sich mit den elektrischen Technologien einstellten, sollten zu einer neuen Synthese geführt werden. Im 21. Jahrhundert wurde dieses transmediale Zusammenspiel vom bewegtem Bild, lichten Körpern und elektronischen Klanggefügen – wie auch bei joeressen+kessner - um generative Datensysteme erweitert.
Echtzeit und Performativität
In der audiovisuellen Medienkultur des 21. Jahrhunderts sind Audio- und Videodaten an die gleichen Informationsträger gebunden und auf beliebige Weise verknüpfbar. Diese Option für die künstlerische Synthese im digitalen Raum benennt Ron Ascott - in Anlehnung an den von Richard Wagner geprägten Begriff des 'Gesamtkunstwerkes' – als 'Gesamtdatenwerk' (5). Die digitalen Technologien ermöglichen die Zusammenführung von Klang und Bild in Environments, die in Echtzeit gerechnet werden. Heute lassen sich große Datenmengen in sehr kurzer Zeit erfassen und verarbeiten, auch solche die für den Menschen an sich nicht wahrnehmbar, nicht untersuchbar und nicht navigierbar sind. Digitale Systeme können Prozesse bis in formale, zeitliche und räumliche Details organisieren. Dabei steht es den Autor_innen offen, Informationen über eine Klaviatur, eine Tastatur oder via MIDI/OSC-Protokolle hinzuzufügen. Dabei findet im Prozess der Codierung ein kontinuierlicher Wechsel zwischen Analyse, Auftrag und Ausdruck statt und Programmierumgebungen wie Max/MSP oder SuperCollider integrieren Klang- und Partitursynthese in einem System. Die tradierte Trennung zwischen Entwicklung, Produktion und Aufführung wird aufgehoben und Aufzeichnung, Notierung und Abbildung werden in Echtzeit moduliert. In der künstlerischen Auseinandersetzung von joeressen+kessner werden die Formatierung dieser Prozesse und das Spiel mit offenen Mengen an Informationen und Daten zu einem Kompositionsprozess, in dem sie die Einsichten über den Ort und sein Interieur mit ihrer künstlerischen Vorstellung verweben.
Prozesshaftigkeit und Veränderlichkeit waren auch Themenstränge der Künstler_innen der ZERO-Generation. Lichtreliefs, Vibrationsbilder, Rasterbilder und Klangskulpturen nutzten technisch-mechanische Konstruktionen, Prozesse, ihren Rahmen und ihre Verläufe zu definieren und als wiederholbar und seriell anzulegen. "Wenn man die Werke aller Künstler betrachtet, die direkt oder indirekt an Zero beteiligt waren, dann fällt auf, dass alle seriell arbeiten. Und keiner hat Komposition gemacht. Bei den Musikern dieser Zeit war es ganz genauso. Ob das John Cage war, Karlheinz Stockhausen, Steve Reich oder Philip Glass – bei allen finden Sie reine, serielle Strukturen! Das hat uns sehr elektrisiert, dass wir anstelle von Komposition nun Strukturen, Energiefelder, Raster und serielle Reihungen gebracht haben." (6), beschreibt es der Künstler Heinz Mack im Rückblick.
Im Unterschied dazu geht es in der zeitgenössischen, generativen Kunst um offene Mengen. Nicht die Verbildlichung eines seriellen oder zeitlichen Prozesses, sondern Komplexität, Unüberschaubarkeit und Unabgeschlossenheit sind im künstlerischen Fokus. Dabei meint Echtzeit, dass die generativen Prozesse so schnell ablaufen, dass Rendering und Display zusammenfallen. Bildsysteme, wie wir sie aus Film, Video und Animation kennen, entstehen auf Hochleistungscomputern. Sie werden getrennt erzeugt, beleuchtet, gerechnet, nachbearbeitet und geschnitten, bevor sie zur Ausstrahlung kommen. Anders in Echtzeitprozessen – hier entstehen performative Systeme, die im Moment der Aufführung gerechnet werden und während der Laufzeit sich kontinuierlich erneuern.
Schnittstellen und Prozesse
Ausgangspunkt der nicht nach Gewerken getrennten Arbeit von joeressen+kessner ist die untersuchende Betrachtung. Zu Beginn eines Entwicklungsprozesses - im gemeinsamen Sondieren und Nachdenken, im Gespräch, im Experimentieren und Erproben und unter verschiedenen Gestimmtheiten - erzeugen sie eine Multiplizität von Ideen, Bildern und Strukturen für den ausgewählten Ort. Sie bilden ein Netz miteinander verbundener Pfade und Spuren, die sich einander überlagern und immer wieder verzweigen. Entlang der Kreuzungspunkte der verschiedenen Ansätze entsteht eine temporäre Stabilität und es ist Teil ihrer künstlerischen Strategie, nach diesen Knotenpunkten zu suchen. Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Forschung und Darstellung, Evidenz und Öffentlichkeit werden dabei neu bestimmt. Sie experimentieren so lange bis sich ein Bild- und Klanggeschehen einstellt, dass der künstlerischen Forschung zur Anregung und Inspiration wird. Es verliert sich der theoretisch-konzeptionelle Ansatz und das ästhetische Geschehen übernimmt die Regie. So entstehen Performative, die Orte, Räume und audiovisuelle Zusammenhänge anders systematisieren.
Medien und Zeichen
Der Prozess des Erkundens und Entwickelns changiert ständig vom Konkreten zum Allgemeingültigen, vom Spezifischen zum Grundlegenden, von Praxis zu Theorie und vice versa. Besonderes Augenmerk von joeressen+kessner gilt dem Prozess, wie ein Inhalt zu einem Zeichen wird, wie sich das Medium verhält, das das Zeichen transportiert und wie die Beschaffenheit des Erscheinungsraums Einfluss nimmt auf die Figuration des Zeichens. Sie betrachten Zeichen als abstrakte Einheit, in der ein Formativ und assoziierte Bedeutungen wechselseitig aufeinander bezogen sind. Wo sie zur Konvention werden und sich in ein System einreihen, entsteht Ausdruck, Sprache und Wissen und in der Art und Weise wie sie es tun, artikuliert sich Ästhetik. Einer vergleichbaren Idee folgt der Medientheoretiker Friedrich Kittler, wenn er davon spricht, dass in der Antike mit der Indienstnahme von Wachstafeln zum Notieren die Geschichte der abendländischen Philosophie beginnt. Kittler hat seine Analyse der Medien der Zeichenbildung und ihrer Bedeutung für die Inhalte in seinem 1986 veröffentlichten Buch 'Grammophon, Film, Typewriter' bis in Gegenwart der elektronischen Medien nachgezeichnet. "Medien bestimmen unsere Lage, die trotzdem oder deshalb eine Beschreibung verdient." (7) Kittler beschreibt den Computer als das Leitmedium der Kultur des 21. Jahrhunderts und referiert zu der untrennbaren Verbindung von Text und Bild: "Ohne Bilder wären Computer ein Spielzeug von Mathematikern geblieben" (8). Heute gibt es kaum ein wissenschaftliches Bild in der Nano-, Mikro- oder Makrodimension, das nicht computergestützt erzeugt wird. Das Verständnis der Welt und zugleich die Vorstellung von ihr werden heute durch die digitalen Zeichensätze formatiert.
Setzungen und Codierungen
joeressen+kessners Zeichensätze aus Licht und Bild, Klang und Code werden als Texturen für Kubaturen und Kompositionen für Räume umgesetzt. Die Codierungen sind Handlungsanweisungen für sich selbstorganisierende Prozesse. Diese entfalten sich als relativ autonome Bewegungen, die sich an die je aktuellen Raum-Zeit-Bedingungen anlagern. Intentionalität und Nicht-Intentionalität erzeugen ein performatives Spiel. Das darin Unvorhersehbare verbindet ihre Arbeitsweise mit Ansätzen künstlerischen Positionen, die sich auf generative Prozesse beziehen. Dabei verzichten sie auf vorprogrammierte Standards ebenso wie auf jede Form von Presets und Plugins für ein höchstmögliches Maß an künstlerischer Autonomie. "Im Computer […] fallen, sehr anders als in Goethes 'Faust', Wort und Tat zusammen. Der säuberliche Unterschied, den die Sprechakttheorie zwischen Erwähnung und Gebrauch, zwischen Wörtern mit und ohne Anführungszeichen gemacht hat, ist keiner mehr. 'kill' im Kontext literarischer Texte sagt nur, was das Wort besagt, 'kill' im Kontext der Kommandozeile dagegen tut, was das Wort besagt, laufenden Programmen oder gar dem System selbst an." (9) In generativen Prozessen werden 'Command and Control' durch 'Networks of Influences' ersetzt. Der Künstler Alberto de Campo erläutert, dass sich das künstlerische Interesse auf die Prozesse bezieht, die zu komplex sind, um sie vollständig zu analysieren und die sich erst in der Interaktion nach und nach erschließen lassen (10).
Ordnung und Assoziation
In den Arbeiten von joeressen+kessner artikuliert sich eine ästhetische Position, die in ihrer Eigenständigkeit fasziniert. Ihre Arbeiten sind Bild-Klang-Kompositionen an ausgewählten Orten. Der Ort ist nicht nur Teil ihres künstlerischen Materials, sondern essentielle Referenz in einer Art und Weise wie sie sehr selten anzutreffen ist. Analog zu Arbeitsformen digitaler Archive befragen und reflektieren sie Erscheinungsformen und Sinnverwandtschaften in einer Form einer 'Semantic Map' (11). Ihre Analyse gilt den architektonischen, (klang-)bildlichen und Zeichen-Qualitäten ebenso wie kulturgeschichtlichen, künstlerischen oder kunst-/musik-wissenschaftlichen Aspekten. Diese bilden den Referenzrahmen für ihre Kompositionen. Sie vernetzen Inhalte in einem audiovisuellen Bezugssystem, das sich – via Projektion - in den analogen Status quo einschreibt. Die Implementierung der digitalen Dimension geht einher mit Entgrenzungen und Auflösungen, die die Neuordnung von Zeichen, Zeichensatz und Zeichenqualität zulassen. Der physische Ort wird von einem architektonischen, räumlichen und zeitlichen System zu einem Netzwerk audiovisueller Beziehungen. In dieses dynamische Gefüge sind die Hör-, Seh- und Denkbewegungen der beiden Künstler_innen als ein Ariadnefaden eingefügt, um vertraute wie vergessene, historische wie zeitgenössische Zusammenhänge zu rekapitulieren. Es entstehen ortsgebundene Interventionen, die Wahrnehmen, Verstehen und Kategorisieren dieses Ortes in einer neuen Qualität ermöglichen, und die zugleich als audiovisuelle Werke Ausdruck außerordentlicher, visionärer Autonomie sind.
(1) Zielinksi, Siegfried: Archäologie der Medien. Rowohlt Verlag Reinbeck 2002. Seite 5.
(2) Fricke, Stefan: Klangkunst ist mein Leben – Interview mit Christina Kubisch, 21. November 2009. Musiktexte 131, November 2011, Verlag MusikTexte Köln 2011, Seite 61 bis 69. URL http://www.christinakubisch.de/images/text/Interview%20Fricke-Kubisch.pdf 5.12.2015
(3) Forrest, Nicolas: Ryoji Ikeda: Artistic Genius or Maths Magician? Blouinartinfo Australia 28. Juni 2013. URL http://au.blouinartinfo.com/news/story/922562/ryoji-ikeda-artistic-genius-or-maths-magician#sthash.yhaww4QK.dpuf 1.12.2015
(4) Föllmer, Golo: Le Corbusier, Iannis Xenakis, Edgard Varèse – Poème électronique: Philips Pavilion. Medienkunstnetz: Poème électronique. URL http://www.medienkunstnetz.de/werke/poeme-electronique/ 17.7.2015
(5) Ascott, Roy: Is There Love in the Telematic Embrace, 1990. In: Randall Packer, Ken Jordan (Hg.): Multimedia. From Wagner to Virtual Reality, New York-London 2001, Seite 307.
(6) Ackermann, Tim: Zero-Kunst – Wir hatten einfach keine Vorbilder mehr!. Zeit Online 31.3.2015. URL http://www.zeit.de/kultur/kunst/2015-03/zero-kunst-avantgarde-heinz-mack/komplettansicht 17.11.2015
(7) Kittler, Friedrich A.: Grammophon, Film, Typewriter. Brinkmann und Bose Berlin 1986, Seite 3
88) Kittler, Friedrich: Schrift und Zahl. Aus: Burda, Hubert + Maar, Christa: Iconic-Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, Seite 201 http://www.theorie-der-medien.de/dateien/schr%20ter_rz1.pdf 21.10.2015
(9) Zitat nach: Arns, Inke: Read_me, run_me, execute_me. Medienkunstnetz 2007. Kittler, Friedrich: Die Schrift des Computers. A License to Kill, Berlin, Seite 2. URL http://www.medienkunstnetz.de/themes/generative-tools/read_me/ 13.8.2012
(10) De Campo, Alberto: Notizen zur Musikpraxis des 21. Jahrhunderts: Von command and control zu networks of influence. Auf: Tagespiegel.de, 9.11.2015. URL http://www.tagesspiegel.de/themen/elearning/prof-dr-alberto-de-campo-notizen-zur-musikpraxis-im-21-jahrhundert-von-command-and-control-zu-networks-of-influence/12552016.html 18.11.2015
(11) Vgl. Netzspannung.org - E-Teachung Plattform und Online-Archiv für Medienkunst: Das Semantic Map Interface, 26.8.2005. URL http://www.netzspannung.org/about/tools/semantic-map/ 12.7.2014
„Nothing's like it seems" - Blicke durch die Oberfläche (1)
Christoph Kivelitz
Eva Maria Joeressen und Klaus Kessner versetzen Räume durch Licht und Klang in ein nicht lineares, schwingendes Kontinuum. Bei ihren multimedialen Gemeinschaftsprojekten arbeiten sie im Wesentlichen mit den zeitbezogenen Medien: Licht - Klang - Bewegung. Bei der Entwicklung einer Aufgabenstellung „in situ" geht das Künstlerduo von den historischen und gegenwärtigen Dimensionen des jeweiligen Ortes aus. Die vorgefundene Situation wird in ihrer symbolischen Struktur analysiert, dekonstruiert und schließlich als komplexes Gebilde neu definiert. Es geht darum, ein mehrdimensionales Koordinatensystem zeit-räumlicher Bezüge zu gestalten und in einem dynamischen Prozess anschaulich werden zu lassen. Dieses Konzept setzt eine umfangreiche, zwar tiefgehende, doch dabei eher intuitiv vorangetriebene Recherche voraus. Das soziale, kulturelle, symbolische und geschichtliche Umfeld wird erkundet und dokumentiert. Es erfolgen Bild- und Tonaufnahmen, Archivalien werden gesichtet, Gespräche geführt, um so dem Ort ein vielschichtiges Profil zu geben, sich ihm von mehreren Seiten vorsichtig und differenziert anzunähern. joeressen+kessner fühlen sich vor allem durch solche Momente angezogen, in denen Brüche und Widersprüche, zeitliche Verschiebungen sichtbar werden, an denen gegenwärtige Nutzungen und alltägliche Wahrnehmungen mit der historischen oder symbolischen Bedeutung kollidieren, oder die wie ein Kondensator, eine Batterie, die besondere Qualität des Ortes in sich verdichten.
[...] Durch Programmierung gestalten joeressen+kessner in ihren zeitbezogenen Medienarbeiten ein Koordinatensystem, in dessen Rahmen das eingespeiste Material aufgegriffen und verwandelt werden kann. In Echtzeit generiert sich im Speicher des Computers ein autonomes Realitätskonstrukt, das in seiner Erscheinungsweise durch zuvor festgelegte Gesetzmäßigkeiten zwar bedingt, in seiner jeweiligen Besonderheit aber nicht vorhersehbar oder steuerbar ist. Es leitet sich ab aus interagierenden digitalen Prozessen. Realität versteht sich hier als ein Ereignis, das sich aus sich selbst hervorbringt und verändert. Dieser Prozess wird mit dem Starten des Computers initiiert, bleibt dem Betrachter zunächst unsichtbar, ist aber mit einem grafischen Programm verknüpft und durch die Beamerprojektion bzw. durch Verstärker in Farb-Form- und Klang-Analogien überführt. Der Betrachter kann sich zwar in diesen Prozess anschaulich hineinversetzen, in die Wirklichkeit dieses Vorgangs aber nicht gestaltend eingreifen, denn dieser vollzieht sich auf einer völlig anderen, ihm nur in den bewegten Buchstaben- und Klangfolgen sicht- und hörbar werdenden Ebene. Allgemeine Vorstellungen von Realität im Sinne von Abbildhaftigkeit werden nicht angestrebt, allein durch die einfühlende und identifizierende Betrachtung subjektiv hervorgebracht. joeressen+kessner haben die Eckpunkte gezeichnet und den Impuls gesetzt, doch das Kunstwerk setzt sich in immer neuen Formen als gleichsam „lebendiger Organismus" ins Unendliche fort, ohne dass sie selbst bei diesem weiteren Entstehungs- und Deutungsprozess noch anwesend sein müssten. Im Grunde genommen wird durch das Kontinuum von Bild und Klang die Aufhebung einer begrenzten Zeitdimension und Sinnstiftung anschaulich. Das in situ, für und an diesem Ort konzipierte Kunstwerk lässt die besonderen Qualitäten und symbolischen Bezugsebenen dieser Topographie sichtbar werden, um den Betrachter über die damit verbundenen Grenzen und Festlegungen hinauszubefördern. Zeit- und Raumbegriff werden erfahrbar und gleichzeitig auf eine Ebene der Transzendenz entrückt.
Grundlegend bleibt dabei allen Arbeiten das dialogische Prinzip [...], d.h. die dialogische Verschränkung verschiedener raum-zeitlicher Bezugsebenen, anhand derer die symbolischen Strukturen zwischen Geschichte und Gegenwart, Offenheit und Abgrenzung, Nähe und Ferne anschaulich erfahrbar werden. Es entsteht durch die Projektion eine Art von Torsituation, durch die andere Wirklichkeits- und Erfahrungsebenen in die Gegenwart eindringen. Grundlegend ist die Ambivalenz von begrifflicher und a-logischer Struktur, von Unmittelbarkeit und erhabener Distanz. Es kollidieren komplementäre Sichtweisen, in denen zeit-räumliche Bezüge zwar verschieden und voneinander abgehoben, doch antagonistisch ineinander verwoben sind. Licht und Klang umreißen einen begehbaren, gleichsam szenischen Raum, der in sich abgeschlossen, doch aber auf das jeweilige Umfeld der Topographie offen bleibt. Die in dieses Kontinuum eingebrachten Versatzstücke vergegenwärtigen Zeichenstrukturen, Bild- und Sinnfragmente, die perspektivisch eine multidimensionalen Wirklichkeit aufscheinen lassen. Niemals ist der übergreifende Kontext als semantische Einheit zu entziffern. Dem Betrachter ist es anheim gestellt, immer neue Positionen zwischen Nähe und Ferne einzunehmen, die Form zu umkreisen und dabei auch das jeweilige Umfeld immer neu zu erfahren. Wie die Installation „dialogus miraculorum" , so entziehen sich die medialen Arbeiten von joeressen+kessner grundsätzlich und konsequent der verbalen Verfügbarkeit. In dem Moment, in dem man glaubt, einen Teil dieses Werkes sprachlich bestimmt und gedanklich durchdrungen zu haben, zeigt es sich sogleich - in einem permanente Schwebezustand zwischen „actual" und „factual fact" (2) - von einer anderen, gegensätzlichen Seite. So lässt sich das Verhältnis zwischen Künstler, Gegenstand und beschreibendem Beobachter gleichsam als „Unschärfebeziehung" erfassen. Die Struktur der Worte, Bilder und Klänge führt in eine Paradoxie und vergegenwärtigt dem Betrachter die Bedingtheit seiner sinnlichen Wahrnehmungen und logischen Verknüpfungen. Mit Hilfe des einen Begriffssystems erscheint das Werk in einer Art und Weise, die im Rekurs auf ein anderes Begriffssystem eine völlige Umkehr erfährt. In dieser Paradoxie, in den sich gegenseitig ausschließenden Unbestimmtheiten liegen Lücken und Zwischenräume, die durch Worte und Gedanken nicht erschlossen werden können. Die Werke von joeressen+kessner bleiben grundsätzlich hermetisch, bieten keine Auflösung an, wie ein Rätsel oder ein Emblematum, das man nur zu entziffern hätte, um es zu verstehen. Der Betrachter muss sich vor Augen halten, dass in einer unendlichen Zahl von Deutungsmöglichkeiten immer mehrere verschiedene Antworten gleichzeitig zu betrachten sind, ohne dass er eindeutig und ohne Willkür entscheiden könnte, welche davon eine wie auch immer geartete Wahrheit entbirgt. Das Werk vermittelt sich als eine transzendentale und offene Struktur von Möglichkeiten, eine permanent neu zu entfaltende Vorgabe an die Rezeption. Damit ist dem Betrachter eine große Verantwortung, ein aktiver Part im schöpferischen Prozess gegeben. Er ist aktiv eingebunden in die Genese dessen, was er sieht und erlebt. Mark Rothko hat diese Leistung, die dem Betrachter in diesem interaktiven Wechselwirkungsprozess abverlangt ist, bereits im Hinblick auf sein eigenes Selbstverständnis als Maler in Worte gefasst: „Ein Bild lebt durch das Miteinander, sich ausweitend und belebend in den Augen des feinfühligen Betrachters. Es stirbt auch daran. Es ist daher riskant, ein Bild in die Welt zu senden." (3)
Dieses Risiko nehmen Eva-Maria Joeressen und Klaus Kessner mit jedem ihrer in situ realisierten Echtzeit-Projekte auf, um damit eine der Gegenwart angemessene künstlerische Ausdrucks- und Rezeptionsweise zu formulieren.
(1) vgl. Rodley, Chris (Hrsg.): Lynch über Lynch. Frankfurt a. Main, 1998. S. 8.
(2) Zu dieser Begrifflichkeit von Josef Albers vgl.: http://www.ruhr-uni-bochum.de/kgi/projekte/opart/op_albers.htm
(3) S. hierzu: Mark Rothko,in: Tiger´s Eye,No.2,1947,p.44.
Der vollständige Text erschien 2010 im Katalog:
joeressen+kessner
close encounter
Katalog anlässlich der 10-jährigen Zusammenarbeit
von joeressen+kessner zur Entwicklung
transmedialer Echtzeitinstallationen
Hrsg. Galerie Noack
ISBN 978-3-00-032686-8
Texte
Bettina Pelz
joeressen+kessner - Transmediale Echtzeit Interventionen. 2016.
Seit 1996 ist der Schwerpunkt der kuratorischen Arbeit von Bettina Pelz Kunst im öffentlichen Raum, seit 2002 konzentriert sie sich auf Licht als Material oder Medium in der Bildenden Kunst. Als Kuratorin ist sie international tätig, zuletzt in Deutschland, Finnland, den Niederlanden, Polen und Tunesien. An der HBK Saar gründete sie gemeinsam mit Prof. Daniel Hausig 2013 einen bundesweiten Hochschul-übergreifenden Arbeitskreis zu Licht in der Bildenden Kunst (LIFA Colloquium) und entwickelte ein Forschungsvorhaben (LIFA Research). Beide führt sie seit 2015 im Rahmen einer Gastprofessur an der HBKsaar.
Christoph Kivelitz
„Nothing's like it seems" - Blicke durch die Oberfläche. 2010.
Dr. Christoph Kivelitz war ein deutscher Kunsthistoriker und Kurator. 1999 promoviert, abeitete er u.a. als Kurator an verschiedenen Museen im Ruhrgebiet und leitete 2005-2007 den Dortmunder Kunstverein.